„Tatort Familie“ – Betroffenenrat veröffentlicht Impulspapier zum Tatkontext Familie

03/2021

Kein Kind kann sich alleine schützen. In den letzten Monaten wurde die Familie als Ort von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt öffentlich stärker thematisiert. Mit dem vorliegenden Impulspapier möchte der Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) eine breite Diskussion anregen und diese mit der Forderung nach einer dauerhaft geführten Auseinandersetzung mit dem Tatort Familie verbinden.

Babys, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche, die in ihrer Familie sexualisierte Gewalt erleben, sind besonders schutzlos ausgeliefert. Die Gewalt erfahren sie ausgerechnet von den Menschen, auf deren Schutz sie angewiesen sind. Betroffene Kinder lernen früh, dass sie niemanden vertrauen können und erleben den schwersten Verrat durch diejenigen, von denen sie existentiell abhängig sind. Es gibt für sie keinen sicheren und heilen Ort.

Wir wissen, wie es war und ist, wenn niemand sieht, in welcher großen Not Kinder und Jugendliche in ihren eigenen Familien sind. Wir wissen, wie es ist, wenn niemand etwas unternimmt. Aktive Vertuschung, Wegsehen oder Ignoranz werden in Familien von Müttern, Vätern, Geschwistern und anderen Familienangehörigen aufrechterhalten und konfrontieren Betroffene oft ein Leben lang mit Ohnmachtssituationen und Verletzungen.

Betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben schon immer das Schweigen gebrochen und Hilfe gesucht. Die Täter_innen blieben und bleiben zumeist jedoch integriert in den Familien. Während durch eine gesellschaftliche und öffentliche Diskussion der Druck auf Institutionen wächst, sind Betroffene bei Aufdeckung im familiären Kontext weiterhin oft alleingelassen. Dies ist zusätzlich schwer belastend, gerade wenn sie das Schweigen brechen. Der Tatort Familie, an dem Kinder und Jugendliche in hohem Ausmaß sexualisierte Gewalt erleben, muss endlich vertiefend in den Blick genommen werden. Eine halbherzige Debatte über Kinderrechte ins Grundgesetz kompensiert nicht die jahrelange Untätigkeit politisch Verantwortlicher auf allen Ebenen.

Wir – Betroffene, die im familiären Kontext sexualisierte Gewalt erlebt haben, können keine Institution in die Pflicht nehmen. Familien sind zu Recht ein besonders geschützter Ort, in den der Staat nur begrenzt hineingreifen darf. Jedoch muss die gesellschaftliche Aufmerksamkeit dem Ausmaß an Kindeswohlgefährdung durch sexualisierte Gewalt in Familien entsprechen. Das Recht auf Schutz vor Gewalt ist ein Menschenrecht. Kein Kind kann sich alleine schützen.

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die verbreitete Kultur des Vertuschens und Schweigens zu überwinden und ein Ethos der Einmischung zu entwickeln. Es liegt in unser aller Verantwortung, Kinder und Jugendliche auch in ihren Herkunftsfamilien vor sexualisierter Gewalt zu schützen und ihnen zu helfen. Wir sind uns bewusst, dass viele Aspekte in diesem Impulspapier weiterentwickelt werden müssen und wir wichtige Themen lediglich angerissen haben. Wir werden uns der Diskussion stellen. Wir schweigen nicht. Wir sprechen auch noch, wenn die Gesellschaft schon wieder den Mantel des Schweigens ausbreiten will.

Alle Betroffenen haben unabhängig vom Tatkontext das Recht auf Schutz und Aufarbeitung, Unterstützung, und Hilfen.

Quelle: Pressemitteilung des Betroffenenrates beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) vom 15. März 2021