Schulschließungen: Lockdown mit Folgen

08/2020

Eine neue Studie der Universitätsklinik Leipzig zeigt: Schulschließungen wegen Corona haben für die betroffenen Kinder dramatische Folgen. Von Stefan Locke, Dresden Die Zahl der Corona-Infektionen an Schulen vor der Sommerpause war sehr gering, viel größer dagegen sind die Folgen der Schulschließungen vor allem für Kinder aus sozial schwachen Familien. Zu diesen Ergebnissen kommt die zweite von Sachsens Bildungsministerium in Auftrag gegebene Studie zu Corona-Infektionen an Schulen, die am Montag in Dresden vorgestellt wurde. Der Freistaat hatte Ende April als erstes Bundesland die Schulen wieder geöffnet und lässt diesen Prozess wissenschaftlich begleiten. In der nun vorliegenden Studie untersuchte die Universitätsklinik Leipzig im Mai und Juni knapp 1900 Schüler und gut 800 Lehrer an 18 Schulen in fünf sächsischen Städten – darunter auch in Zwickau, dem am schwersten von Corona betroffenen Landkreis. Insgesamt baten die Forscher an zehn zufällig ausgewählten Grundschulen und neun Gymnasien Schüler und Personal um Proben, wobei die Beteiligungsraten zwischen 20 und 80 Prozent lagen. Den Probanden wurden sowohl Rachenabstriche als auch Blut abgenommen. Im Ergebnis fanden die Wissenschaftler keine einzige aktive Corona-Infektion und lediglich bei 14 der untersuchten Proben Corona-Antikörper. Der Wert ist so gering,

dass nicht einmal die ermittelte leicht höhere Infektionsrate in größeren Städten statistisch belegbar sei, sagte Wieland Kiess, Direktor der Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Leipzig. Kiess betonte zugleich, dass dies ein erstes Teilergebnis sei und sein Haus die Studie noch einmal nach Schulbeginn im September sowie im November wiederholen werde, um Antworten auf die Frage zu erhalten, wie sich die Aufhebung des Lockdown, Ferienreisen und der Wechsel der Jahreszeiten auf die Corona-Infektion an Schulen auswirken. Angesichts der bisherigen Ergebnisse ließen sich jedoch generelle Schulschließungen nicht mehr rechtfertigen, so Kiess.

„Wer darüber immer noch redet, den kann ich nicht verstehen.“ Letzteres liegt vor allem auch am zweiten Teil der Studie, in der Kiess untersuchte, welche Folgen die wochenlangen Schulschließungen im Frühjahr bei Kindern und Jugendlichen hinterließen. Die wiederum hält er für so dramatisch, dass er seine Ausführungen zunächst mit ein paar Erlebnissen aus seiner ärztlichen Praxis begann. In den Wochen des Lockdown seien anders als sonst keinerlei Fälle von Kindesmisshandlungen in der Klinik aufgetaucht – nicht, weil es keine gegeben habe, sondern weil die Kinder nicht in der Öffentlichkeit und die Fälle damit nicht entdeckt worden seien. Ähnlich sei es mit schwerwiegenden Erkrankungen wie Diabetes, auch da habe es anders als sonst wochenlang keine Erstdiagnosen mehr gegeben, während er nach dem Lockdown Kinder mit lebensgefährlich hohen Zuckerwerten habe behandeln müssen. Kiess sagte: „Wegen der Angst vor Corona sind die Leute in vielen Fällen nicht mehr in die Klinik gekommen – mit fatalen Folgen.“ Ähnlich schwerwiegend schätzt Kiess auch die psychosozialen Auswirkungen auf Kinder an Grund- und weiterführenden Schulen ein, welche die Forscher im zweiten Teil der Studie anhand von Fragebögen untersuchten. Am stärksten habe der Lockdown vor allem Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Haushalten getroffen, sagte Kiess, dessen Mitarbeiter im Mai und Juni mehr als 900 Kinder und Jugendliche dazu befragt haben. Genaue Zahlen und Details zur Methode nannte Kiess nicht, weil die Studie bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift zur Begutachtung eingereicht worden sei. Im Ergebnis aber habe eine Mehrheit der Schüler unter dem Verlust eines strukturierten Tages und vor allem unter dem fehlenden Kontakt mit Gleichaltrigen schwer gelitten. Die Nutzung elektronischer Medien durch Kinder habe sich in besagter Zeit vervielfacht, und zwar so sehr, dass eine Mehrzahl der Befragten sogar angegeben habe, dass ihnen die Nutzung von Handys und Computern letztlich langweilig geworden sei. Darüber hinaus diagnostizierten die Forscher bei den befragten Kindern einen allgemeinen Verlust an Lebensqualität, der mit vermehrten Sorgen um die eigene Familie sowie um ihre Stadt, Deutschland und die Welt einhergehe. Letzteres sei bei Mädchen häufiger vorgekommen als bei Jungen. Ein Fünftel der Kinder habe zudem angegeben, sich zu sorgen, dass das Leben nach Corona nicht mehr so werde wie zuvor, und mehr als die Hälfte mache sich Sorgen um die internationale Lage. Im Ergebnis hätten drei Viertel der Kinder die Frage, ob die Schulen noch einmal so lange schließen sollten, mit Nein beantwortet beziehungsweise angegeben, dass sie wieder zur Schule gehen wollen, sagte Kiess und warnte: „Wenn wir Kinder lange nicht zur Schule gehen lassen, dann wird ihnen das massiv schaden.“ Kein Land könne es sich leisten, eine ganze Generation nicht zu bilden. „Die Konsequenzen von langen Schulschließungen wären enorm.“ Zugleich wandte sich Kiess aber auch gegen Versuche, die politischen Maßnahmen von Mitte März für falsch zu erklären. Damals habe man nicht wissen können, wie sich das Virus verhalte und verbreite. Mit dem Wissen von heute aber rate er dazu, die Schulen zu öffnen. Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) sieht sich durch die Ergebnisse in seinem Kurs bestärkt, Sachsens Schulen nach den Sommerferien wieder im Normalbetrieb zu öffnen. Zwar gelten strenge Hygieneregeln, aber eine Abstands- und Maskenpflicht gibt es an Schulen dann nicht mehr. Abermals wies er Vorwürfe zurück, unverantwortlich mit dem Leben von Kindern umzugehen. „Das Interesse der Kinder kommt mir dabei immer zu kurz“, sagte Piwarz. Stattdessen erlebe er „eine sehr angstgeleitete, sehr negative Diskussion“. Coronabedingte Schulschließungen würden in Sachsen künftig „absolute Ultima Ratio“ bleiben. Piwarz legte einen Stufenplan vor. Von 36 Neuinfektionen an werde eine vorübergehende Schulschließung erwogen.

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.8.2020)